Jan Ulrich Haseckes Das Generationenprojekt […] will zwar der „großen Geschichte in den Geschichtsbüchern“ die „Geschichte der Menschen” zur Seite stellen – „Der erste Kuß, Schulabschluß, neu in der großen Stadt, der Abschied“ – und riskiert damit durchaus Banalitäten, aber er versucht zugleich schon mit der Vorstellung des Projekts, eine bestimmte Ordnung des Erinnerns zu installieren. Die Geschichtsschreibung von unten soll sich zumindest an die Eckdaten jener von oben halten: „Wie war das noch? Damals als die Mauer gebaut wurde, als der Minirock für Skandale sorgte, als die 68er auf die Straße gingen, als die RAF die Bundesrepublik terrorisierte, als Biermann ausgebürgert wurde, als Tschernobyl explodierte, als die Mauer fiel, als ... Schreiben Sie Ihre persönlichen Erinnerungen an wichtige Ereignisse der letzten 50 Jahre auf und schicken Sie sie ans GenerationenProjekt. Hier werden sie veröffentlicht.“ Diese Einbettung persönlicher Erinnerung in die Erinnerungen herkömmlicher Geschichtsbücher zieht sich durch das ganze Projekt. So schreibt Hasecke im Editorial: „Ihr Text sollte allerdings zwei Bedingungen erfüllen: 1. Im Text sollte auf ein Ereignis Bezug genommen werden, das von allgemeiner Bedeutung war oder ist. Ihr Text kann zum Beispiel Ihre individuelle Sicht auf ein großes oder kleines historisches Ereignis vermitteln oder Ihre persönliche Verstrickung in die Geschehnisse schildern. Sie können aber auch ein ganz persönliches Erlebnis schildern, das für Sie so wichtig war, daß Sie sich um die große Geschichte, die zur gleichen Zeit geschrieben wurde, gar nicht gekümmert haben. 2. Der Text sollte eine gewisse literarische Qualität haben, so daß andere ihn gerne lesen.“ Eine andere Maßnahme ist die Aufzählung relevanter Ereignisse zu jedem Jahr und die Präsentation eines kleinen Textes zum wichtigsten dieser Ereignisse, bevor die Leser gebeten werden, die eigenen Erinnerungen niederzuschreiben und einzusenden. Das Verfahren mag als Rahmensetzung naheliegen, wirkt aber auch ein bisschen wie eine Absicherung gegen die Ungewissheiten, die aus der Geschichte von unten entstehen mögen: 1989 ohne Maueröffnung, aber mit dem ersten Kuss? 1990 ohne Wiedervereinigung, aber mit einem Abschlussball? 1991 ohne Golfkrieg, aber mit dem Umzug in die Stadt? Die Geschichte von unten entkommt nicht der Geschichte von oben, die Revolte verbeugt sich vor den alten Institutionen.
Geschichte von unten bleibt es freilich auch, wenn es sich nicht um den ersten Kuss mit der ersten Liebe handelt, sondern tatsächlich Großereignisse wie Stalins Tod, die Studentenrevolte oder die Wiedervereinigung aus ganz persönlicher Perspektive erzählt werden. Die Anwesenheit der großen Geschichte hat ihren Sinn unter der Perspektive, daß dadurch eine interessante Spannung entsteht zwischen den Erinnerungen jenes Mannes von der Straße und den anerkannten historischen Eckdaten, die nun entweder durch persönliche Erlebnisse mit Leben gefüllt oder, ja, dies kommt vor, durch ganz andere Erlebnisse einfach übergangen und damit gleichsam in ihrer Bedeutsamkeit relativiert werden. Das Projekt hat eine Reihe von Beiträgen, die sich gerade in Hinsicht auf solch historische Eckdaten wie die Studentenrevolte, Stalins Tod oder den Mauerfall sehr spannend lesen und denen man eine Kolumne in den Geschichtsbüchern wünscht. Die heikle Frage bleibt, ob die schließlich vorliegende Sammlung tatsächlich Aussagen über Art und Weise des kollektiven Erinnerns zulässt oder eher das Werk eines individuell benennbaren Autors bzw. Projektleiters darstellt.
Der Blick auf diese Konstellation hat deutlich gemacht, dass auch die Projekte des kollaborativen Schreibens nur bedingt der Leitung und Beschränkung durch bestimmte Regeln entkommen. Zwar bringt das Internet in der Tat eine neue Demokratie des Redens hervor, zwar beseitigt das Internet viele traditionelle Zugangsbarrieren und öffnet damit zugleich die Schleusen für eine gewisse Überproduktion an öffentlicher Rede, aber von der Pensionierung der diskursiven Polizei kann keine Rede sein. Wer eher auf die Karte der Qualität als der Radikaldemokratie setzt, wird dies nicht unbedingt bedauern.
Quelle: Roberto Simanowski: Interfictions. Vom Schreiben im Netz. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 37-39.