Einige ausgewählte Personen (unter ihnen Susel) chatten ca. eine Woche lang mit all jenen, die eben gerade vorbeischauen. Der Chat ist frei zugänglich (mit Blick auf die geplante Bühnenumsetzung aber immer nur für eine Handvoll User) und besitzt so wenig Regeln und Vorgaben wie die meisten Chats. Die eingeschleusten Agenten haben sich durch schriftstellerische Tätigkeit an andere Stelle qualifiziert und sorgen nun dafür, dass aus dem üblichen Worte-Chaos eines Chats eine Gesprächs-Handlung wird, aus der sich etwas machen lässt.
Die aufgezeichneten Chatlogs werden vom Sack und seiner crew (unter ihnen Susel) bearbeitet. Dabei wird dem Vorgefundenen nichts hinzugefügt, wohl aber jede Menge umgestellt und gestrichen (von 500 Seiten auf 30!). Das authentische Wortmaterial (halb authentisch, wegen Susel & Co) wird zur Verhandlungsmasse, aus der ein Stück entsteht. Dieses gehorcht dann schon eher den Gesetzen des Theaters als denen des Internet, wo der fertige Textentwurf nur noch zur Einsicht abgelegt wird für all jene, deren Worte mit im Spiel sind. Die letzte Phase des Projekts vollzieht sich ganz im Zielmedium: Das Stück wird mit den Schauspielern für die Bühne erarbeitet, der Screen der Buchstaben durch die Bühne der Körper ersetzt.
Was schließlich auf der Theaterbühne zu sehen ist, hat seinen Ausgangspunkt also im Netz. Das Drama wird nicht mehr vom Autor geschrieben, sondern vom (Online-)Leben. Was nicht heisst, dass man Leben pur bekommt. Die Inszenierung beginnt im Chat, der ja nichts als ein Ort ist, an dem der Mensch wieder er selbst sein kann, nämlich: Schauspieler. Jeder Chatter lässt im Grunde eine Figur im Netz auftreten, die mehr oder weniger sein alter ego ist. In diese Konstellation kommen nun die bestellten Agenten mit ihrem Doppelspiel: Sie schaffen Figuren, die auch aus dramaturgischer Sicht etwas hergeben, die (chat)literarische Qualität sichern und auf Konflikte hinarbeiten. Inwiefern aus dem Ganzen eine Geschichte entsteht, hängt dabei von ihrer Fähigkeit ab, auf die Figuren der 'echten Chatter' einzugehen. Und von der Fähigkeit, die eigene Figur richtig spielen zu können. Denn da alles den Kommunikationsbedingungen des Chats unterliegt (direkte Fragen mit der Erwartung schneller Antwort), müssen die Agenten ihre Identität gut gelernt haben, wollen sie nicht aus Verlegenheit spontan die eigenen Daten preiszugeben. Insofern ist es ein Etüdenspiel, ein Improvisationstheater, noch ehe es auf die Bühne kommt.
Die Themen eines solchen Stückes variieren zwar, aber nur im vorgegebenen Rahmen. Chats haben immer wieder mit Einsamkeit, Kontaktsuche und 'Identitätstourismus' zu tun. Das Medium ist die Message, gilt hier durchaus, und dazu gehört schon einmal die unumgängliche Frage nach dem wirklichen Geschlecht, die ja nicht erst akut wird, wenn man sich fürs Separé verabredet.
Simanowski, Roberto. "Doppelte Inszenierung: Tilman Sacks "Chat Theater". Dichtung Digital (2001)