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Oskarine

Submitted by lemadmin on Sun, 06/07/2015 - 02:00
Autor(en) | Author(s)
Gabriel, Ulrike
Pastior, Oskar
Werk-URL | Work URL
Jahr der Erstveröffentlichung | Year of original publication
2003
Sprache(n) | Language(s)
Deutsch
Autoren-Webseite(n) | Author's website(s)
Screenshots
Deutsche Beschreibung | German description

Im Jahr 2003 entstand die Oskarine, ein Projekt, bei dem sich die Softwarekünstlerin Ulrike Gabriel mit dem Werk von Oskar Pastior (1927-2006) auseinandergesetzt hat. Bestimmendes Moment von Pastiors Werk ist bekanntlich die einschränkende Spielregel („contrainte“), d.h. der poetische Algorithmus, den Pastior als Motor der Textgeneration verstand. Entsprechend hat er in seinen Projekten mit großer Meisterschaft zahlreiche alte und zum Teil vergessene Gedichtformen wie Anagramm, Palindrom, Sonett, Sestine, Pantum oder Villanella erneuert. Von daher ist naheliegend, dass er einziges deutschsprachiges Mitglied von OULIPO war. Komplementär zur schriftlichen Seite seiner Texte steht die klangliche: Seine Gedichte entfalten sich auf ganz eigene Weise im mündlichen Vortrag, wobei Pastiors Stimmkunst mit ihrem rumänien-deutschen Akzent, ihrem Rhythmus und ihrer Melodik ganz unverwechselbar die Rezeption seines Werks geprägt hat.
Diese soeben erwähnten Momente spielen alle eine Rolle bei der Entwicklung der Oskarine, bei der Ulrike Gabriel auch eng mit Oskar Pastior zusammengearbeitet hat. Es handelt sich dabei um eine Poesiemaschine, die Lesungen von virtuellen Gedichten Pastiors mit dessen Stimme erzeugt. Gabriel hat einige nach strengen Algorithmen verfasste Gedichte aus dem Werk Pastiors ausgewählt. Es handelt sich dabei vor allem um die Formen des Pantums, der Sestine und des Sonetts. Diese poetischen Algorithmen wurden mittels Java nachprogrammiert.
Beim Pantum zum Beispiel, einer alten kombinatorischen Form, die vor gut 150 Jahren aus Malaysia nach Frankreich kam, handelt es sich um ein Gedicht aus beliebig vielen vierzeiligen Strophen, wobei jeweils die 2. und 4. Zeile als 1. und 3. der folgenden Strophe erscheinen und die letzte Strophe die Zeilen 1 und 3 der ersten Strophe als 2. und letzte Zeile des Textes bringt. Das jeweilige Gedicht wurde von Pastior gesprochen, aufgezeichnet und dann in seine permutierbaren Teile bzw. in Audiosamples geschnitten. Das Programm erzeugt nun nach der jeweiligen poetischen Regel – also der des Pantums beispielsweise – immer wieder neue Variationen des jeweiligen Gedichts bzw. seines Vortrags. Zugleich wird noch ein visuelles Pendant wiedergegeben. Die jeweils vom Programm geschriebene Zeile erscheint als zarte animierte Schrift auf dem Bildschirm, zu der weiterer Text hinzutritt. Mit fortschreitender Permutation wird dieser visuelle Text durch Überlagerungen dichter, opaker, und changiert so ins schriftgraphische Bild.
Was Ulrike Gabriel – und andere Programmierkünstler – an Pastiors Gedichten interessiert, ist sicherlich der Eindruck von Verwandtschaft. Diese betrifft sowohl den Selbstbezug als auch die Prozessualität des sich selbst ausführenden Textes. Sie betrifft dabei auch die alte Frage, wie nahe die Maschine dem Dichter kommen kann und woran genau sich die Unterschiede festmachen lassen. Das simulative Moment der Oskarine scheint im ersten Moment verblüffend, dennoch gibt es große Unterschiede sowohl im Verfahren als auch im Konzept.
Dem Pantum ist wie der Sestine, dem Sonett, dem Anagramm ein autopoetischer Mechanismus eingeschrieben. Pastior interessiert hieran, sich als sprachliches Subjekt der Selbsttätigkeit der Sprache und des Textes auszusetzen und unter dieser Bedingung zu möglichst feinen und raffinierten Formulierungen zu kommen. Ein Spiel zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Im Unterschied zur Maschine ist für Pastior nicht das Entscheidende, den Algorithmus richtig zu programmieren, sondern bei seiner Anwendung Buchstaben, Laute, Worte zu finden und zu kombinieren, die klanglich, optisch und semantisch passen, die überraschende Bezüge und Spannungen herstellen. Während die Oskarine also zum Beispiel bemüht sein muss, die Schnitte zwischen den Samples möglichst sauber abzuschleifen, sind diese Schnittstellen in Pastiors Dichtung mit höchster Konzentration hin auf Spannung gesetzt und sichtbar. Während die Oskarine jedes Gedicht, d. h. seine von Pastior vorgefertigten Teile, stur unendlich oft durchpermutiert, gehört ein solcher Prozess zwar auch in die Produktion des Autors, doch dieser arbeitet an einem für ihn stimmigen einzigartigen Resultat. Den Algorithmus spielt er vielmehr im Gedichtzyklus so durch, dass er an ihm immer wieder andere Formen entwickelt und mit zusätzlichen Regeln arbeitet. Was der Maschine fehlt, ist, um es kurz zu machen, die Einbildungskraft, und es fehlt ihr auch die einzigartige Modulation des individuellen Vortrags.
Dies deutlich zu machen aber ist genau die Stärke der Oskarine. Konzeptuell will sie den Autor nicht einfach simulieren, sondern das Spiel zwischen Identität und Differenz zweier Generierungsprozesse, zwischen Programm und Gedicht, zwischen Maschine und Autor möglichst genau inszenieren. Die visuelle Poesie der Oskarine symbolisiert dieses Spiel wie ein Kommentar im intermedialen Changieren zwischen Schrift und Bild, Chaos und Ordnung. Das künstlerische Konzept Ulrike Gabriels rangiert hier also auf einer anderen, abstrakteren Beobachtungsebene als bei Pastior, wirft aber ähnliche Grundfragen auf. Sie zeigt dabei in der hypermedialen Komposition verschiedenster Codes ebenfalls großes Können. Diese konzeptuelle wie auch gestalterische Dichte macht die Oskarine m.E. zu einem eigenständigen künstlerischen Projekt ersten Ranges. Zugleich ist sie eine außergewöhnliche Lektüre und Interpretation von Pastiors Werk.

Quelle: Friedrich W. Block: p0es1s. Rückblick auf die digitale Poesie. Klagenfurt, Graz: Ritter, 2015, S. 147-150.

Autor der deutschen Beschreibung | Author of German description
Friedrich W. Block