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Abfall für alle

Submitted by lemadmin on Tue, 05/05/2015 - 02:00
Klassifikation | Classification
Autor(en) | Author(s)
Goetz, Rainald
Sprache(n) | Language(s)
Deutsch
Buchtitel | Book title
Abfall für alle. Roman eines jahres
Veröffentlichungsort | Place of publication
Frankfurt am Main
Verlag | Publisher
Suhrkamp
Seitenzahlen | Page numbers
864
ISBN | ISSN
978-3518410943
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Deutsche Beschreibung | German description

Vom 4. Februar 1998 bis 10. Januar 1999 schrieb der Schriftsteller Rainald Goetz beinahe ein Jahr lang Tagebuch, das in Echtzeit Tag für Tag auf der Website www.rainaldgoetz.de im Internet nachzulesen war. Mit diesem Schritt ins Internet gerät das Tagebuchschreiben in zwei Paradoxien: Erstens vollzieht es sein Tagwerk, die jüngste Vergangenheit als Gegenwart zu bewahren, im flüchtigsten aller Medien, und zweitens geschieht dies unter den Augen einer (potentiell) weltweiten Öffentlichkeit. Damit ändert sich das Prinzip des Tagebuchschreibens: Man schreibt nicht mehr nur für sich, sondern formuliert gleich forsch und unberufen für die ganze Welt.
Wenn ein bekannter Schriftsteller Tagebuch schreibt, wird ein Name eingebracht, der für Qualität bürgt: vielleicht auch der Erlebnisse, zumindest aber der Niederschrift. Was ersteres angeht, so ist ein bisschen Yellow-Press schon dabei, wenn Goetz auf Partys mit anderen bekannten Namen zusammentrifft. Ansonsten bleibt Alltag Alltag. Man begegnet allen möglichen Verrichtungen des Tages, und da ein Schriftsteller schreibt, gehört dazu auch die Schriftstellerei, über die Goetz ja ohnehin am liebsten schreibt. Und weil die Medien unseren Alltag bestimmen, und den von Goetz insbesondere, sind auch sie reichlich vertreten, allen voran „big Mama TV“. Und so erfährt man immer, was im Fernsehen so lief: Günter Jauch bei Harald Schmidt, aus der Blechdose Hundefutter naschend, der nekrophile Pathologiestudent bei Domian, Joschka Fischer bei Biolek. Dazu Goetz Kommentare, mehr oder weniger ausführlich, mehr oder weniger ergiebig.
Die Eintragungen können so banal und harmlos werden wie in Thomas Manns Tagebüchern: „1857 eingekauft / und Nachrichten gekuckt“ oder „1915 Anruf / von Claudius. Nochmal über die gestrige Arbeit“. Es wird auch nicht immer klar, worum es eigentlich geht: „1234 Kaffee / ist aus - Tee gekocht - Perversion / Verhakungsprobleme - das sowieso Erbe gedacht - / dann: a ja! - DAS sollte doch das Motto werden, morgens, gestern, für den zweiten Tag - in der FAZ, im Monika Maron Bericht gelesen - bloß wo ist der jetzt?!“ Dazwischen schöne Kommentare zu bekannten Büchern. Oder Goetz Meinung über Redakteure, die ausdauernd seine Werke verreißen. Und Theaterbesuch und Techno und die Neueröffnung in der Linienstraße 155: „Noch so ein toller renovierter Innenhof mit alter Kastanie“. Anders als bei Thomas Mann erfuhr man es hier aber immer gleich, denn der Tag stand noch zur Nacht im Netz. Die Leser saßen dem Autor praktisch im Nacken. Die Öffentlichkeit war sofort und uneingeschränkt.
Während Goetz öffentlich Tagebuch schrieb, las er die veröffentlichten Tagebücher anderer Schriftsteller: Ernst Jünger, Peter Rühmkorf, Helmut Krausser. 1999 erschien das Tagebuch als „Roman eines Jahres“ in einer Printfassung im Suhrkamp Verlag. Die Printausgabe korrigiert das eine Paradox des Tagebuchs im Internet – Buch ist Dauer – und schaffte ein neues: sie darf sich nicht von der digitalen Fassung unterscheiden. Das würde sehr schnell auffallen, denn man hatte vorher ja auf Goetz Homepage einen Zeitbaum entlang zu allen bisherigen Tagen navigieren und die abgelegten Texte zum Offline-Lesen runterladen können. Das Projekt endet mit der absoluten Identität des Tagebuchschreibers mit sich selbst.
Diese Identität ist freilich bei jedem Tagebuch groß. Denn anders als z.B. bei der Autobiographie schreibt nicht der 60jährige über das Ich, das er vor 20, 30, 40 Jahren war, sondern schreibendes und beschriebenes Ich liegen auf einer Zeitebene. Aber immer gab es die Stunde der Druckfahnen, immer gab es den späteren Blick auf das einst Geschriebene und die Chance zu Änderungen. Im vorliegenden Fall fehlt diese Stunde. Was im Augenblick online gestellt wurde, muss nun auch aufs Papier. Das Buch gehorcht letztlich den Regeln des Netzes. Wie schrieb doch Arno Schmidt in Sachen Tagebuchschreiben: „Einzig bei Dem, den vor seinen eigenen Eintragungen, etwa 1 Jahr später, Ekel überkommt: bei Dem ist durchaus noch Hoffnung!“ Zu spät!

Autor der deutschen Beschreibung | Author of German description
Roberto Simanowski