Auf die Frage, ob es sich bei seinem Beitrag um Literatur oder nicht doch eher um avantgardistische bildende Kunst handele, gibt Martin Auer folgende Auskunft: „Seit Marcel Duchamp 1917 ein Urinal in einer Galerie ausgestellt hat, hat es sich in der bildenden Kunst durchgesetzt, dass als Werk der bildenden Kunst anzusehen ist, was ein Künstler dazu erklärt. Und zu Recht. Denn einen rostigen Nagel in einem Museum betrachtet man anders als einen rostigen Nagel auf der Straße.“
Natürlich vergleicht Auer sein Werk nicht mit Duchamp, aber er entnimmt jenem doch die gleiche Aufforderung: „Betrachte das hier einmal als Literatur. Versuche, es zu lesen!“ So bereitwillig man dieser Aufforderung folgt, die Ausgangsfrage bleibt: Soll man lesen oder betrachten/hören?
„Lässt sich die Userin darauf ein, so wird sie etwas erleben, was sie nicht erlebt, wenn sie das Dargestellte nur als Folge von Bildern betrachtet. Ich könnte ja noch viel radikaler vorgehen. Ich könnte den Usern einen unbehauenen Stein hinlegen und sagen: ‚Lest das!‘. Ein leeres Buch. Ein zugeklebtes Buch. Ein Buch mit sieben Siegeln. Ein Buch mit sieben Seeigeln. Eine schwarze Wand. Ein Stück Menschenhaut. Einen Fixstern. Einen Luftballon. Das Urinal von Marcel Duchamps. Die Mona Lisa. Beim Versuch, das Urinal zu lesen, wird etwas anderes geschehen als bei dem Versuch, es als Bildnis zu betrachten.“
Wie man sieht, verschiebt sich der Begriff des Lesens hier ins Metaphorische. Und das steht ja schon in der Einleitung: „Fotos, Stimme, Montage: Martin Auer“. Text gibt es unterhalb der Wortebene. Die Buchstaben schließen sich für das deutsche Publikum – und auf dieses zielt Auer ausdrücklich – nicht zu Wörtern zusammen. Sie verweisen auf sich selbst, führen – vergleichbar Kasimir Malewitsch’ Schwarzem Quadrat – in die Gegenstandslosigkeit des Ursprungs zurück, in die Unschuld vor dem Bedeuten.
Und so zeigen auch die Bilder Buchstaben wie nach der Schlacht: abgerissene Plakate, halbverweste Zeichen, die für nichts mehr stehen, verwittert, zerblättert, auf dem Weg zurück vor das Meinen.
Und dann, mit der Schlussbemerkung, die Wende: „Die Fotos wurden am 16.6.2001 zur jeweils angegebenen Zeit in Jaffa, Israel aufgenommen“. Aus dem Nahost-Konflikt kommen die Buchstaben also, auf ihn verweisen sie. Weil am Anfang das Wort stand? Und damit das Verhängnis gegensätzlicher Benennung erst begann: Ansichten, Religionen, Ideologien?! Die Sache ist nun der tieferen Bedeutung so offen, wie ein Urinal im Museum oder ein schwarzes Quadrat im Bilderrahmen.
Wer damit fertig ist, mag zu den Audiofiles zurückkehren, sie im Hintergrund immer wieder abspielen, sich dem Singsang des Schamanen überlassen. Er wird irgendwann der Erdschwere darin gewahr werden und nicht mehr loskommen von Auers seltsamen Stück. Keine Literatur im traditionellen Sinne, und gewiss keine, die wirklich der digitalen Medien bedarf – aber eine Faszinosum in jeden Fall.
Quelle: Roberto Simanowski (Hrsg.): Literatur.digital. Formen und Wege einer neuen Literatur. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002, S. 155-157.