„Wollten Sie schon immer einmal Schutzengel spielen? Oder die Macht besitzen, den Lauf der Dinge umzukehren? Hier haben Sie die Chance dazu. Schalten Sie Ihre Lautsprecher an - und steigen Sie ein!“
Die Einleitungsworte dieses Multimedia-Werkes versprechen, dass der Leser mehr als der Leser ist: Er ist „(inter)aktiv in das Geschehen eingebunden und erschließt sich die Geschichte selbst. Er bestimmt deren Struktur und vor allem das ‚Ende‘“, so das Vorwort: „Der Leser ist aufgefordert, das scheinbar Unausweichliche zu entdecken und es dadurch seiner Macht zu berauben.“ Was ist das Unausweichliche? Wie kann der Leser es bannen?
Das Flash-Fenster wirft einen Satz („Es ist Nacht in Ihrer Stadt“) und zwei glitzernde Sterne in den schwarzen Hintergrund. Man hört Hunde anschlagen und etwas wie eine Hupe. Ein Pfeil lenkt den User auf den Link, der nun zu klicken ist. „In den Straßen steht immer noch die Hitze des Tages. Die Stadt schläft wie betäubt. Einzig Sie sind wach und wandern durch die Stille.“ Die Sätze beharren darauf: Es handelt sich hier um Literatur in der zweiten Person. In diesem Haus, so liest man weiter, wird es am nächsten Abend zwei Tote geben. Wenn kein Wunder geschieht.
Soweit das Intro. Unter dem nächsten Link der Menüleiste erfährt man, dass das heruntergekommene Haus seit kurzem von der Immobilienbetreuungs-GmbH ‚Winter‘ verwaltet wird, dass es wegen der Lage an der Durchgangsstraße laut ist, dass es nach Abgasen stinkt, und dass – so steht es im Brief, dem nächsten Menüpunkt – die geplanten Sanierungsmaßnahmen die Miete von 15 auf 24 DM/qm erhöhen werden.
Ab jetzt ist die Leserin gefragt. An ihr ist es, die Dialoge der Mieter – 5 junge Leute und ein altes Ehepaar – abzuhören, indem sie deren Portraits in eines der gelben Felder zieht. So weiß man bald, wie jeder die Sache sieht. Und man ahnt auch bald, wer die beiden Toten sein werden. Da jedoch nicht wie beim Computerspiel die schnellste Lösung des Rätsels honoriert würde, liest man alle Dialoge. Dass man sie sich selbst erstellen muss, gibt dabei ein bisschen das Gefühl, mit dem Mikrofon herumzulaufen oder mit einem Abhörgerät (auch, wenn die Dialoge selbst noch als Schrift kommen). Überraschend ist das ganze allerdings weniger als man glaubt. Überraschend ist nur mitunter die Erzähllogik, und natürlich die Lösung: Deus ex machina; der Bote an der Tür (ja, es klingelt wirklich und man erschrickt ein bisschen wie die Aufgesuchten), ein Brief vom verlorenen Sohn, direkt aus Amerika. Da ist das Abschlussfeuerwerk schon vorprogrammiert.
Quelle: Roberto Simanowski (Hrsg.): Literatur.digital. Formen und Wege einer neuen Literatur. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002, S. 168 f.