Die Losung mag in die falsche Richtung führen, obwohl es freilich auch darum geht: Wie viele ERs, wie viele SIEs lassen sich in deutschen Wörtern finden? Die deutschen Sprache, man ahnte es, ist männlich dominiert: Da fallen viel mehr Wörter auf dem ER-Haufen nieder als auf dem für SIE.
Aber wenn es hier nur um feministische Erbsenzählerei ginge, wäre nicht viel mehr zu sagen, als dass die linguistische Argumentation auf einer fraglichen Logik aufbaut, denn eine Silbe aus zwei Buchstaben lässt sich natürlich öfter finden als eine aus drei. Wie gesagt, der Titel führt in die Irre, der Untertitel ist da schon klarer: Seh-Texte, konkrete Poesie. Und neben diesem Bezug auf Franz Mon gibt es später auch eine Verbeugung vor Ernst Jandl.
Was an diesem Beitrag fasziniert, ist die Fortführung der konkreten Poesie im Zeichen ihrer digitalen Möglichkeiten. Dies geschieht mittels eines professionell programmierten Zusammenspiels zwischen Text, Bild, Sound und Animation, wobei die beiden Rezitatoren Anne Moll und Ulli Pleßmann sehr zum Gelingen der Sache beitragen.
Der Einfallsreichtum der beiden Autorinnen ist groß und in der Ausführung nicht ohne Ironie. Die zeigt das Beispiel Wörterkolonnen, wo die ER-Wörter und SIE-Wörter Stück für Stück auf zwei Haufen fallen und dabei PapiER und FedER langsam herunter schweben, der SchmettERling noch etwas hin und her flattert und die JalouSIE kurz Glocken erklingen lässt, was zeigt, dass die Jalousie zur Zeit hochgezogen ist, denn das Geschäft ist geöffnet und jemand hat es gerade betreten. Oder man nehme die Darstellung des Wortes ERbauung, das die erste Silbe wie einen Klotz hinwirft – den nicht mehr bewegen kann, so hart hört sich der Wurf an –, um dann, Stück für Stück in die Höhe zu bauen.
Wenn Erté Buchstaben malt und ihnen dadurch eine Bedeutung vor ihrer Bedeutung gibt, so werden hier Wörter im Sinne ihrer Bedeutung dargestellt: das Wort siechen schwindet dahin, das Wort Stotterer stottert auf dem Bildschirm und immer weiter rennt endlos über den Bildschirm. Die Kinetisierung konkreter Poesie.
Quelle: Roberto Simanowski (Hrsg.): Literatur.digital. Formen und Wege einer neuen Literatur. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002, S. 148 f.