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Die Galerie. Eine begehbare Erzählung in zwölf Räumen

Submitted by lemadmin on Tue, 05/05/2015 - 02:00
Klassifikation | Classification
Autor(en) | Author(s)
Paulheim, Heiko
Jahr der Erstveröffentlichung | Year of original publication
2001
Sprache(n) | Language(s)
Deutsch
Screenshots
Deutsche Beschreibung | German description

Die empfangende Musik klingt bedrohlich, das präsentierte Augenpaar mindert dies Gefühl keineswegs. „Das ist eine Erzählung über eine Galerie, ausgestellt in einer Galerie“, lautet die Erklärung. Und wie in den meisten Ausstellungen, kann man dem vorgegebenen Rundgang folgen oder eigene Wege gehen. Auf jeden Fall sind es die Bilder an den Wänden, die den Text enthalten; fährt man mit der Maus über sie, wird er im oberen Feld angezeigt, unterlegt von Grafiken, die immer eine Uhrzeit enthalten. Der Klick auf eine der Türen entscheidet, in welchen Raum man geht. Das Weitergehen prägt sich als Schrittgeräusch ein; die eingenommene Position wird in einer Raumskizze rechts im Bild angezeigt. Was ist der Sinn dieser Entdeckungstour?
„Ärzte. EKGs. Hupende Autos. Dann Krankenhauszimmer, in denen ich erwachte. Stilleben. Abziehbilder des Lebens, die plötzlich wieder gegen real ablaufenden Film eingetauscht werden.“ Ist die Galerie ein Krankenhaus?  Der Ich-Erzähler hat mindestens Erinnerungen ans Krankenhaus, schwer geworden durch Wiederholung: „Die Ärzte sagen mir, ich hätte wieder einmal Glück gehabt.“ Und so verzichtet der Stil auf den Artikel, weil das andere im Plural auftritt und die Dinge sich schon verkehrt haben: Krankenhauszimmer, und die Realität vor/hinter ihnen nur ablaufender Film.
„Wenn die Zeit stehenbleibt, gibt es keinen Schmerz. Da ist kein Tunnel, kein weißes Licht. Die Sonne läßt die Dinge noch Schatten werfen, aber es gibt keine Wärme und keine Kälte.“ – „Kein Schritt hallt durch die Bilderhallen, kein Windhauch, kein Sonnenstrahl. Das ist der Himmel, die Hölle, das Fegefeuer. Der Anfang und das Ende, Alpha und Omega.“
Die Texte sind opak und vertragen so ganz gut die alternativen Anschlüsse. Auf die Reihenfolge der Lektüre kommt es zumeist nicht an, die Stimmung ist entscheidend, die sich mitteilt. Und am Ende, wenn im Hintergrund Eisenbahnschienen in den Horizont führen, ist ohnehin alles klar: „Ich werde sie inständig bitten, nicht zu weinen. Werde ihr einfach gegenübersitzen und sie ansehen, bis die Zeit stehenbleibt.“
Oder ist die Galerie das Ich? „Jedes Bild erzählt eine Geschichte, doch nur die wenigsten sind wirklich spannend“, heißt es. Ist die eigene Geschichte spannend? Zumindest ist sie einem nahe genug, um sie an die Stelle der Bilder zu setzen, die Galerie umzubauen, sie auszuhängen mit den Erklärungen des eigenen Daseins, den gesprochenen Bildern, zwischen denen nur noch die anderen, die Besucher, die Leser sich frei bewegen können.
Schade, dass es dabei keine Alternativen gibt, keinen anderen Blick, der aus einer anderen Begehung folgte. Man hätte, aus Raum zwölf noch einmal in Raum sieben tretend, die ‚Bilder‘ dort nun anders sehen können, einem anderen Text gegenüberstehen können. Manche hätten dies vielleicht nicht bemerkt, aufmerksamere Leser hätten sich gewundert, wären den Weg zurückgegangen, um die Sache zu prüfen, etwas wäre in Gang gekommen. Die Multilinearität hätte eine Multiperspektivität erbracht, wie man sie aus Galerien kennt, wenn man einmal von Tizian zu Caravaggio tritt, ein andermal zu Seurat.

Quelle: Roberto Simanowski (Hrsg.): Literatur.digital. Formen und Wege einer neuen Literatur. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002, S. 160-162.

Autor der deutschen Beschreibung | Author of German description
Roberto Simanowski