Mit leichten Schritten kommen Raabes Knittelverse daher, mit einer interessanten Variante des kombinatorischen Erzählens. Zunächst scheint dieses Stück freilich alles andere als eine Geschichte zu erzählen, denn zunächst sieht man sich nur dem Bild Brillantenschieber im Café Kaiserhof von George Grosz gegenüber. Man mag an Lessings Laokoon denken und daran, dass Bilder eingefrorene Zeit sind und sich nicht narrativ entwickeln können. Aber was Lessing über den Unterschied von bildender Kunst und Sprachkunst sagte, gilt nicht mehr, wenn hinter dem Bild verschiedene Text-Ebenen auf ihren Einsatz lauern.
Eine Ebene ist der Befehlstext, der zum Beispiel dafür sorgt, dass bei Mausklick die Köpfe der Personen auf dem Bild sich bewegen und gar ihre Zugehörigkeit ändern oder eine Person eine Havanna raucht, wobei sich dann tatsächlich auch Qualm über die Szenerie legt. Zugleich erscheinen – dies ist die andere Ebene versteckten Textes – rechts und links vom Bild vierzeilige Kreuzreime – Raabes sogenannte Knittelverse –, die den vier dargestellten Personen Klick für Klick eine Geschichte anhängen.
Schon diese Idee hat es in sich: Sie macht deutlich, dass ein digitales Bild mehr ist als die Digitalisierung eines Bildes. Im Reich des Digitalen gibt es keine Linie mehr, nur eine Verdichtung von Pixeln; jedes dieser Pixel kann separat angesprochen und zum Verlassen seines Platzes programmiert werden. Das digitale Bild ist kein festgehaltener Moment mehr, es hat selbst seine eingeschriebenen Momente. Der Slogan lautet nicht allein: „Dies ist keine Zigarre“, sondern auch: „Dies ist keine Abbildung einer Zigarre“. Denn was wir sehen, ist immer bloß die temporäre Visualisierung eines alphanumerischen Codes.
Aber Raabes Werk buchstabiert nicht nur das Wesen eines Bildes um, es stellt auch eine originelle Form des Hypertexts dar, denn je nach Ordnung des Klickens erzählt dieses Bild verschiedene Geschichten. Da stiehlt der hagere Mann in der Mitte einmal dem Glatzköpfigen im Vordergrund das Geld, ein andermal tritt er als Kommissar auf, dann als Hasardeur, dann wieder – nun als Anarchist – zündet er eine Bombe, die den Bildschirm schwarz werden lässt. Die Entdeckung der ganz im Grosz-Stil nicht gerade feingeschnitzten und sicher auch nicht zu ernst gemeinten Texte führt zu einem Klickspaß, der immer wieder neue Lesarten des Bildes hervorbringt: Rund 1.800 Wörter bzw. zweieinhalb engbeschriebene Seiten Text verbergen sich unter der Oberfläche dieses Flash-Werkes.
Quelle: Roberto Simanowski (Hrsg.): Literatur.digital. Formen und Wege einer neuen Literatur. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002, S. 137 f.