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Die Callas-Box

Submitted by lemadmin on Tue, 05/05/2015 - 02:00
Klassifikation | Classification
Autor(en) | Author(s)
Seyerlein, Andreas Louis
Werk-URL | Work URL
Jahr der Erstveröffentlichung | Year of original publication
2001
Sprache(n) | Language(s)
Deutsch
Autoren-Webseite(n) | Author's website(s)
Screenshots
Deutsche Beschreibung | German description

Von einem möglichen Tieftauchrekord von 300 Metern ist die Rede, denn der 21jährige Sagan verfügt über ein Lungenvolumen von 14 Litern, wobei er die gentechnische Veränderung der Architektur seines Blutplasmas von Sagan weiterhin energisch bestreitet. Ob die Teilnehmer des Design-Marathons 2032 Veränderungen des Lungenvolumens oder des Muskelgewebes vorgenommen haben, wird man indes an ihrem Quellcode feststellen.
Auch die anderen Nachrichten dieses Tages im Jahres 2028 malen ein düsteres Bild der Zukunft: In Libyen sind ölfressende Bakterien in ein Ölfeld eingedrungen, in Amerika werden Schauspieler entführt, um ihnen Eizellen zu entnehmen, die dann auf dem Schwarzmarkt für gewaltige Summen gehandelt werden. Und schon der Titel zeugt davon: Ein Klonexperiment der Maria Callas. Die Callas-Schwestern wachsen auf der Seatown auf, wo, wie eine Nachricht vermeldet, an bakteriologischen Waffen gearbeitet wird. Die Seatown ist jetzt endlich geortet worden, auf Position 50°53'N 17°54' W, in 1640 Fuß Tiefe. Was auf ihr geschah, ist Thema der Hauptgeschichte, die der Reiseschriftsteller Joe Ellis erzählt.
Diese Geschichte beginnt wie folgt: „ATLANTIK 08.25 am. Seit es hell geworden ist halte ich Ausschau nach Überlebenden. Leichter Wind von Nordwest. Kein Kopf. Keine Bewegung. Kein Schiff. Kein Flugzeug. Nachts geschlafen. Kurz. Wie ausgeschaltet. Dann gerufen, eine Stunde, oder zwei. Keine Antwort. Habe eine Signalfackel gezündet. Kein Ton. Kein Zeichen. Kein Gegenfeuer. Aber die Wale sind zurückgekehrt.“
Der Text ist linear und könnte, so der mögliche Einwand, ebenso gut auf Papier existieren. Nicht ganz – denn die spezifische Erzählsituation funktioniert nur im Internet. Die Erzählung ist eingebettet in eine Website, die wie das Medienangebot einer Nachrichtenagentur aussieht und sich auch so verhält. Da werden Bilder, Graphiken, Karten angeboten, die überhaupt nichts erhellen, da gibt es Links zu vertiefenden Informationen und Formulare für Rückmeldungen, für die einem der Einwahlcode fehlt. In diesem Setting liegt der medienkritische Akzent des Beitrages: Nicht die angebotenen Informationen allein malen ein düsteres Zukunftsbild, die Umstände des Angebots vervollständigen dieses – als Text zwischen den Zeilen.

Quelle: Roberto Simanowski (Hrsg.): Literatur.digital. Formen und Wege einer neuen Literatur. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002, S. 145 f.

Autor der deutschen Beschreibung | Author of German description
Roberto Simanowski