„Täglich nach Dienstschluss verlässt ein Mann das benachbarte Haus, wirft ein paar hektische Blicke die Straße hinunter und entfernt sich mit hastigen Schritten von seiner Wirkungsstätte. Sobald er sich auf der Höhe meines Fensters befindet, holt er einen Apfel aus seiner rechten Jackentasche und beißt hinein. Vor etwa einem Jahr amüsierte ich mich über dieses regelmäßige Vorkommnis. Später glaubte ich mich überlegen, konnte ich doch alle seine Bewegungen voraussagen. Seit kurzem aber nehmen meine Begeisterung und das Interesse ab, und immer öfter fühle ich starkes Unbehagen.“
Dies ist zunächst einmal eine gut erzählte Geschichte, die nach dem Einstieg bald ihren kafkaesken Verlauf nimmt, als die Erzählerin einsieht, dass sie der Routine des unbekannten Mannes nicht entkommt, sondern sich in einen Rhythmus gezwungen fühlt, „dem ich nicht gewachsen bin, dem ich aber nachgeben muss, weil es keinen Ausweg, kein Ziel gibt.“ Da hilft auch der Diebstahl und die Zertrümmerung des Apfels nicht. Das kehrt nur die Bewegung um: „Täglich nach Dienstschluss steht ein Mann vor meinem Fenster und führt einen Apfel weg von seinem Mund. Er befördert ihn in seine rechte Jackentasche und bewegt sich rückwärts in Richtung des benachbarten Hauses, geht die Treppe herauf und betritt rückwärts seine Wirkungsstätte. Mit einem Lächeln auf den Lippen schließt er die Tür. Grundsätzlich zur gleichen Uhrzeit und ohne jede Abwandlung wiederholt sich das Ritual.“
Es ist die Routine, die schmerzt und die 30jährige Erzählerin schließlich im Spiegel wie eine alte Frau aussehen lässt: „Ich möchte erleben, dass der Kreislauf durchbrochen wird, einmal nur will ich mich nicht auf diesen Bahnen bewegen, einmal nur soll der Weg in eine andere Richtung führen. Wenn der Mann ein einziges Mal nicht mit dem Zug nach Hause fahren würde, sondern den Bus nehmen müsste, um noch an einem Obstladen vorbeizukommen, wäre ich erlöst.“ Der Entschluss braucht eine andere Richtung. Die Erlösung kann nur von der Ich-Figur selbst kommen. Sie muss die Beobachterposition verlassen, das eigene Leben ändern statt die Routine des Apfelessers. Aber das passiert nicht; die Geschichte geht kafkaesk aus, und zwar gleich in drei Varianten.
Die Alternativität am Ende dieser ansonsten linearen Geschichte ist nicht das einzige medienspezifische Merkmal und wäre als solches gewiss auch unbefriedigend. Die Geschichte – die zunächst auf Papier vorlag – wird hier in Flash-Design visualisiert, mit einer von der Flash-Technik diktierten Sparsamkeit, was zu Minimalismus-Kulissen und interessanten Schnitten führt. So sieht man gleich anfangs die Silhouette der Stadt, die sich zur Straße formt, aus der wiederum die Laterne entsteht – unter welcher der Mann den Apfel essen wird – und das Fenster – hinter dem die Beobachterin warten wird. Oder die Büro-Kulisse: Die Entfaltung der Gegenstände aus Häufchen an Daten im Raum, bis ein Arbeitszimmer mit Schreibtisch, Schrank, Tür und Lampe (die ihren Lichtkegel hin und her wirft) Gestalt angenommen hat. Dass dies gelungen ist, wissen auch die AutorInnen. Denn in dem Zimmer passiert gar nichts; es wird gleich wieder abgebaut, Stück für Stück: Es ist Kulisse nur für sich selbst.
In den besten Fällen ergibt die Visualisierung eine zusätzliche Aussage: wenn die unausweichliche Situation der Beobachterin sich in mehreren Fenstern mit mehreren Schatten darstellt oder wenn die Axt immer wieder in den Schädel des Apfelessers fährt, als solle er für jeden einzelnen büßen. In anderen Fällen dient sie der bloßen Illustration des Gesagten: wenn vom Tanz des Apfels vor den Augen der Beobachterin die Rede ist und Äpfel im Reigen sich auf dem Bildschirm bewegen. In manchen wird sie problematisch: wenn die Äpfel schließlich in Tränen übergehen.
„Uns war die Ästhetik des Beitrag besonders wichtig, die erzählte Geschichte sollte durch die Animationen visuell erfahrbar sein und außerdem eine den User beeindruckende Atmosphäre aufbauen, die ihn gespannt sein lässt auf den nächsten Klick“, so Dorit Linkes Erklärung.
Quelle: Roberto Simanowski (Hrsg.): Literatur.digital. Formen und Wege einer neuen Literatur. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002, S. 158 f.