„Ein Internet-Café aus Plexi-Glas auf einem Berg. Die Stammgäste: Gleitflieger. Ein Denker namens Reflex Blue. Eine Kellnerin, die nur über email zu erreichen ist. Ein phantomhaftes Wesen, das dort in Aktion tritt, wo andere abheben. Ein Eremit, der in der abgeschiedenen Welt seines Klosters verharrt, aber gerade deswegen gerne aufgesucht wird. Das ist die Welt von Gleitzeit {color:blue}.
Was die Kellnerin in ihren Pausen im Ruheraum macht, weiß niemand. Was die Gleitflieger auf dem Bildschirm betrachten, interessiert einige. Dass #D2B0E9, Green Flyer und Inner Flyer bald zu einem geheimnisvollen Abflugpunkt oberhalb des Cafés aufbrechen wollen, wissen alle. Was es mit diesem Abflugpunkt auf sich hat, weiß nur Reflex Blue. Dass man von dort in die Zukunft fliegen kann, muss ein Gerücht sein. Wer die Wahrheit wissen will, folgt den Fliegern. Oder hört Reflex Blue zu. Oder beobachtet die Kellnerin.“
Der Möglichkeiten sind also viele, in dieses Schreibprojekt einzusteigen, das einem Seminar von Odile Endres am von Uwe Kolbe geleiteten Studio Literatur und Theater der Universität Tübingen entstammt. Individuelles und kollaboratives Schreiben kommen hier zusammen, aus Anlass eines Ausgangsbildes – die Flügel eines Gleitfliegers im Nebel vor dem Hintergrund eines blauen Berges – und unter der Aufsicht eines Drehbuches mit sieben Sub-Drehbüchern für die Erzählstränge. Diese, auch vom Design her recht unterschiedlichen Erzählstränge sind streckenweise linear, dann wieder lauern Links, um in andere Teile des Projekts zu führen.
So gibt es Isas Begegnung mit dem unbenannten Gleitflieger am Piz Camara, die in Isas Zimmer führt, als habe sie – sie ist ein Inner Flyer – nur geträumt, aber alles sieht aus wie eine rissige Felswand, und die Steine haben plötzlich eine Stimme: „Wir Steine bergen das Wissen! Welches Wissen? Das Wissen, dass sie lebt! Wer lebt? Die Erde! Die E..“
Wer auf Wissen klickt, landet bei Mr. Reflex Blue – der Gedankenflieger –, mitten in Node Nr. 50: „Doch [←] da verliere ich mich in [✧] mystisch süßer Wehmut; fange Dich, Denker, zurück zum aufgeklärten Plaudertone! Länger, aber leichter zu lesen! — Also: Kurzsichtig ist es, wenn viele Leser und mancher Großmeister* als Anfang und Ziel (arche und telos) der Literatur das Ausdenken allein einsetzen, aber das Nachdenken darüber vergessen; wenn gemeinhin das zupackende Handeln als richtiges Leben gilt, das Nach- und Aussinnen dagegen als müßiger Luxus...“
Wir sind in einem Essay über das Erzählen, in dem, am unteren Rande, auch Großmeister Peter Handke auftritt. Der Klick von hier führt zum Berg, den man nicht beschreiben kann, nur sein Abbild – und da ist ja auch Magrittes Pfeife am Textrand. „Namen sind nicht Dinge. D’accord d’accord, Herr Autor — aber das kennen wir langsam!“, so rufen die Leser, während der Link direkt in Julias Garten nach Verona führt: „Was liegt an einem Namen? was wir Rose nennen, / Duftete unter jedem andern Namen genauso süß.“ „Wer so hellsichtige Leser hat,“ entgegnet der Autor, „kann sich das Schreiben sparen; aber bedenke bitte, Leser, dass nicht ein Schriftsteller hier schreibt, sondern Mr. Reflex Blue denkt – ich (der Autor) schreibe nur eben auf, was er denkt.“
Die schwere Materie kommt mit Jean Paul’schen Auflockerungen. Wem das trotzdem zu kompliziert wird, der kann ja zu Flieger #D2B0E9 ‚switchen‘, der gerade Herrn Jones, Vertreter der örtlichen Strahlenschutzbehörde, sein Handy ausliefern muss, denn er ist aus Versehen in die Zukunft geflogen und da hat sich einiges im Umgang mit gepulsten Hochfrequenzwellen geändert. Ob ihn aus dieser Lage die Kellnerin des Internet-Café – dies wäre dann die Gleiterin im virtuellen Raum des Netzes – retten kann, mag jeder selbst nachlesen.
Quelle: Roberto Simanowski (Hrsg.): Literatur.digital. Formen und Wege einer neuen Literatur. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002, S. 162-164.