Im Jahr 2005 entstand http://plaintext.cc, ein algorithmischer und zugleich visueller Text des Philologen, Computerexperten und Netzkunstaktivisten Florian Cramer. Auf dem Bildschirm werden drei Rechtecke mit Zahlencode angeboten, darunter Text in Spalten oder über die Seite verteilt. Die Zahlen sind aktiv, klickt man auf sie, erscheint jeweils neuer Text, gelegentlich auch ein viertes Rechteck, das den Buchstaben ‚K‘ zeigt. Der Text kann so immer wieder und beliebig oft neu generiert werden, jeweils eine Collage aus Fragmenten, die deutlich an Computercode erinnern; aber auch Satzteile, Namen, Wörter erscheinen, besonders häufig Wörter wie ‚milk‘ oder ‚pussy‘. Man kann lesen, betrachten, assoziieren und über den tieferen Grund dieses Projekts rätseln, sich frustrieren lassen oder die Sache sich selbst überlassen.
http://plaintext.cc basiert – der Typographie entsprechend – auf drei Modulen: (1) einem Set verschiedener Textmaterial-Quellen, die nach bestimmten Wahrscheinlichkeitsgewichtungen zufällig ausgewählt und z.T. miteinander vermischt werden, (2) einem Set von zwei Dutzend Text-Transformationsalgorithmen, die ebenfalls nach stochastisch gewichteten Zufallskriterien miteinander kombiniert werden und den unter (1) ausgewählten Text transformieren, (3) einem Set von einfachen typographischen Formatierungsalgorithmen.
Dieser Automat – also drei Maschinchen in einer – kontaminiert digitalen Code mit poetischem Text: in Echtzeit eingelesene Daten des Computersystems, auf dem er läuft, mit Passagen aus George Batailles Histoire de l'œil (1928 – das mag erahnen, wer ‚pussy‘ und ‚milk‘ auf diesen Text bezieht) und einem Email-Dialog zwischen Florian Cramer und der australischen Dichterin Mez, deren Dichtungssprache ‚mezangelle‘ selbst eine Poetisierung von Computer-Code darstellt.
Sowohl in den typographischen Formatierungen als auch in den drei algorithmischen Modulen bezieht sich http://plaintext.cc eng auf Konzept und Typoskript des Hörspiels Die Maschine von George Perec. Perec realisierte es 1968, ein Jahr nachdem er Mitglied von Oulipo geworden war, beim Saarländischen Rundfunk in Deutschland. Das Hörspiel für vier Sprecher inszeniert einen Computer, dessen drei Speichereinheiten und eine (weibliche) Kontrollinstanz eines der berühmtesten deutschen Gedichte, nämlich Goethes Wandrers Nachtlied / Ein gleiches (1780) analysieren bzw. nach oulipotischen Spielregeln dekonstruieren. Das Hörspiel endet, indem der Computer nach einer Zitatenexplosion aus der Weltliteratur verstummt, technisch gesprochen: indem er nach einem Speicherüberlauf abstürzt. Goethes Gedicht hat also trotz aller Demontageversuche seine Unversehrtheit bewahrt und damit seine poetische Kraft und die Unzerstörbarkeit großer Dichtung bewiesen, so Perecs Übersetzer Eugen Helmlé, der an diesem Projekt konzeptuell beteiligt war.[1]
Das Typoskript von Die Maschine organisiert den Text in drei Spalten, die den drei Speichermodulen entsprechen, und einer vierten Spalte, die der Kontrollinstanz des Computers zugeordnet ist.
Dieses Schema greift http://plaintext.cc ebenso auf wie die algorithmische Transformation von Ausgangstexten. Das intertextuelle Zitat konfrontiert uns medienreflexiv mit einer wesentlichen Differenz zum Praetext: Während Perecs Text eine Fremdausführung konzipiert, nämlich die Aufführung durch die vier Sprecher, die Präsentation als Hörspiel, ist http://plaintext.cc ein Text, der sich selbst ausführt. Der Benutzer wird auf eine geradezu blödsinnige Interpassivität hin konditioniert: Er darf die Maschine immer wieder anstoßen. Bei Cramer erfolgt ihr Absturz durch bloßen Abbruch dieser Option.
Das Maschinen-Konzept von Perec wird von einer Darstellungs- in eine Ausführungsebene, eben in einen echten Computer selbst transformiert und damit zugleich überspitzt. Anders als bei vielen ernst gestimmten Versuchen automatischer Textgeneration handelt es sich in beiden Fällen um komische Pataphysik. Die algorithmische Generierung von Texten aus Texten kreist gedankenlos, geradezu onanistisch in sich. Erotische Semantik ist im Verbund mit den obszönen Anleihen bei Bataille durchaus angebracht. Der Maschinencode, den http://plaintext.cc zeigt, ist pornografisch verschmutzt; und Cramer hat in mehren Essays dargestellt, wie häufig dies auch bei echtem Programmcode vorkommt.
So lässt plaintext die eigene Maschine wie auch die Perecs als Junggesellenmaschine à la Duchamp verstehen: Sie interpretiert die Maschine als Substitut für das Begehren des Anderen, das es scheiternd nicht erreicht, als ‚Kurzschluss bei Bedürfnis‘, wie es im Großen Glas heißt. Damit ist aber meines Erachtens konzeptuell der Bezug auf die andere Seite der Maschine, nämlich den Menschen, seine Kreations- und Imaginationsfähigkeit herausgestellt, auf seine Poiesis, der jede Maschine entspringt, und der Bezug auf seine Poesie.
Als übrigens Perecs Hörspiel Die Maschine damals in der Stuttgarter Gruppe, dem Kreis um Max Bense, diskutiert wurde, führte dies dazu, dass die Versuche, mit Computern poetische Texte zu erzeugen, eingestellt wurden.
Quelle: Friedrich W. Block: p0es1s. Rückblick auf die digitale Poesie. Klagenfurt, Graz: Ritter, 2015, S. 155-159.
1. Preis beim 1. Junggesellenpreis für Netzliteratur, 2005
Begründung der Jury (Johannes Auer. Friedrich W. Block, Florian Höllerer, Beat Suter):
"Florian Cramer hat eine kleine autopoetische Junggesellenmaschine gebaut, die ironisch einen „Kurzschluss bei Bedürfnis“ inszeniert. Die prekäre Selbstverliebtheit, in der das Programm nach bestimmten Regeln immer wieder anderen Text aus Texten erzeugt, vermag die Benutzer gleichwohl in ihren Bann zu ziehen. Sie lockt auf falsche Fährten, die, wenn man ihnen nur beharrlich folgt, doch zu überraschenden Entdeckungen führen.
Der Automat - drei Maschinchen in einer - kontaminiert digitalen Code mit poetischem Text: in Echtzeit eingelesene Daten des Computersystems, auf dem er läuft, mit Passagen aus George Batailles „Geschichte des Auges“ und einem Email-Dialog zwischen Florian Cramer und der australischen Dichterin Mez. Jeder neu entstandene Text hat eine bestimmte Anzahl von Transformationen und typographischen Formatierungen durchlaufen. Visuell wird dabei ein Bezug zum Manuskript von George Perecs Hörspiel „Die Maschine“ hergestellt, in dem sich ebenfalls ein Textgenerator nach sich selbst verzehrt.
Dass aktuelle und historische Bezüge zur Kunst der Junggesellenmaschinen so geschickt und dicht programmiert und dass mit der Reverenz an OULIPO, die Werkstatt für potentielle Literatur, auch bezeugt wird, von welcher poetischen Tradition plaintext.cc sich im Verfahren herschreibt, unterstreicht die Preiswürdigkeit dieser Arbeit."