Im Jahr 1959 entstand der allererste computergenerierte poetische Text: Der junge Informatik-Student Theo Lutz (1932-2010) erstellte mit der Zuse Z 22 an der Technischen Hochschule Stuttgart von ihm so genannte Stochastische Texte. Er veröffentlichte das Ergebnis seines Experiments mit einem erläuternden Essay in der Ästhetik-Zeitschrift augenblick („Stochastische Texte“, in: augenblick 1 [1959], S. 3-9), die von seinem Professor Max Bense herausgegeben wurde. Max Bense (1910-1990) hat als Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie wie auch als Schriftsteller in seinen ästhetischen Schriften spätestens seit 1950 Wesentliches zu einem rationalistischen, auf Informationstheorie und Semiotik beruhenden Verständnis von Kunst beigetragen (vgl. Max Bense: Literaturmetaphysik. Der Schriftsteller in der technischen Welt. Stuttgart 1950). Seine Textästhetik von 1960 formuliert den konzeptuellen Kontext, in dem die Stochastischen Texte entwickelt wurden: Umstellung von idealistischer Subjektivität auf Rationalität und Objektivität in der Kunst, auf die „Programmierung des Schönen“, von mystischer Schöpfung auf statistische Innovation „durch eine Realisation, die ihr Dasein und ihre Wahrnehmbarkeit einer Auswürfelung, einer Selektion von Häufigkeiten verdankt. Man tritt nicht aus dem Nichts in das Sein, sondern aus einer Unordnung hoher Entropie in eine Ordnung hoher Information“ (Bense, Max: Programmierung des Schönen Allgemeine Texttheorie und Textästhetik. Baden-Baden 1960, S. 55).
Dieses Konzept setzte Theo Lutz in der Weise um, dass er zur „Auswürfelung“ einen Zufallsgenerator für die Großrechenanlage Zuse Z 22 programmierte, der aus einem Speicher von Sprachvariablen einfache, grammatisch richtige ‚Elementarsätze‘ fabrizierte. Die Maschine speichert eine bestimmte Anzahl von Substantiven, Pronomen, Adjektiven, Konjunktionen sowie die Kopula ‚IST‘, kodiert als binäre Zahlen. Das Programm errechnet dann in mehreren Schritten verschiedene Zufallszahlen, die die Auswahl aus diesem Speicher für die Bildung des jeweiligen Satzes bestimmen. Jedes Zeichen, jeder Satz wurde zunächst auf Lochstreifen und dann auf einem Fernschreiber gedruckt. Substantive und Adjektive des Variablen-Speichers entstammten – auf Vorschlag Benses – dem Roman Das Schloss von Franz Kafka.
Interessant ist, dass weder diese Vorentscheidung, eine berühmte literarische Quelle zu wählen, reflektiert wurde noch die Tatsache, dass Lutz beim Abdruck einiger Elementarsätze im augenblick-Heft Korrekturen von Schreibfehlern vornahm, die auf dem Fernschreiberausdruck zu lesen sind. Ich nenne diesen blinden Fleck einmal den latent subjektiven Faktor.
Genau an dieser Stelle setzt die Verarbeitung der Stochastischen Texte im Projekt Free Lutz des Netzkünstlers Johannes Auer an. Auer hat zunächst das Programm von Lutz exakt in PHP nachprogrammiert. Die Generierung von Elementarsätzen, wie sie damals das Programm von Lutz auf der Z 22 erzeugte, kann seither im Internet nachvollzogen werden.
Quelle: Friedrich W. Block: p0es1s. Rückblick auf die digitale Poesie. Klagenfurt, Graz: Ritter, 2015, S. 150-153.