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Die Amme

Submitted by schaefer on Thu, 11/10/2016 - 10:14
Klassifikation | Classification
Autor(en) | Author(s)
Dittmer, Peter
Werk-URL | Work URL
Jahr der Erstveröffentlichung | Year of original publication
1992-2005
Sprache(n) | Language(s)
Deutsch
Screenshots
Deutsche Beschreibung | German description

Anders als beim Turing-Test weiß der Benutzer [bei von Peter Dittmers 1992 erstmals präsentierter und dann ständig bis in die fünfte Generation (2005) weiterentwickelter Installation Die Amme], dass er (oder sie) in einen Dialog mit einer Maschine tritt, wobei Tastatur und Bildschirm als klassische Interfaces benutzt werden. Die Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine wird also für den Teilnehmer explizit. Der Sprachdialog verläuft im Wechsel zwischen beliebiger Texteingabe durch das Publikum und Antworten, die der Computer, nachdem die Eingabe von ihm lexikalisch und syntaktisch analysiert wurde, unter Verwendung von Lexika und programmierten Satzbildungsregeln formuliert und am Bildschirm ausgibt. Aleatorisch löst das Programm während des Dialogs einen Mechanismus aus, der in einer Vitrine ein Milchglas verschüttet. Die ‚Dialogfähigkeit‘ der Amme wird seit 1992 unter Verwendung von protokollierten Gesprächsverläufen kontinuierlich erweitert. Mittlerweile verfügt das Programm über ca. 400.000 Antwortmodule sowie mehr als 50.000 Variablen der Analyse bzw. Identifizierung von Texteingaben.
Das Projekt kann hier als Beispiel für eine Reihe von Arbeiten stehen, die die Maschine nicht zuletzt als groteske Überzeichnung und Verzerrung (auch im Sinne von ‚Karikatur‘) des Menschlichen oder auch des Maschinellen selbst inszenieren. [Anmerkung: Als weiteres Beispiel für den deutschsprachigen Raum sei nur kurz auf Frank Fietzek hingewiesen. Fietzek hat in Arbeiten wie Bodybuilding oder Rollstuhl, ähnlich wie Dittmer mit dem Milchglas, seine Hardware mit unerwarteten Anleihen aus der Lebenswelt angereichert (Butterflymaschine als Interface, Rollstuhl und Modellrennbahn als Lese- und Speicheraggregate), die wie ironische Kommentare zu Hypes des Technikdiskurses gelesen werden können, zu Phantasmen des Cyborgs im Falle von Bodybuilding, der Beschleunigung von Informationsverarbeitungsprozessen beim Rollstuhl.] Das geschieht hier allerdings nicht in einer harmlosen, sondern durchweg ernsthaften Weise. Ernsthaft in dem Sinne, dass Konzept und Durchführung der Arbeit tiefgründig und hochdifferenziert sowie von vielschichtiger und nicht nur komischer Bedeutung sind. Und diese Vielseitigkeit gilt allerdings auch für die Möglichkeit von Komikzuschreibungen: Die absurde Verzerrung menschlichen Verhaltens wird bei Die Amme schon durch das Ironiesignal des Titels angezeigt, der diese in unserem Kulturkreis längst ausgestorbene weibliche Profession einer Maschine andichtet. Die Hardware von Verschüttungsmechanismus, Milchglas und Milch werden zwar von einer mehr oder weniger komplizierten, dem Benutzer in Design und Abläufen undurchsichtigen Software gesteuert, allerdings in einer Weise, die der geläufigen Funktion einer Amme (Milch zu geben und nicht zu verschütten) spottet. Die gewollte, monotone, allerdings nicht ganz vorhersehbare ‚Blödsinnigkeit‘ dieser vermeintlichen Fehlfunktion steht im Kontrast zu ihrem erheblichen technischen Aufwand und zur – vorgetäuschten – Kommunikationsfähigkeit des Computers, die Turings Frage schon eher aufwerfen lässt. Auch diese Kompetenz wird ironisch gebrochen, da die Antworten im Stil einer ‚heruntergekommen Sprache‘ (Ernst Jandl) gehalten sind, also der Erwartung von perfekter, künstlicher Sprache durch vermeintliche ‚Natürlichkeit‘ widersprechen. Eine kurze protokollierte Dialogpassage mag das veranschaulichen („>“ steht für das Publikum, „<“ für die Amme (vgl. Peter Dittmer: Schalten und Walten (Die Amme). Gespräche mit einem milchverschüttenden Computer, 2003, S. 25):

> ich gehe endgültig.
< Meine Warnung lautet: Draussen überfällt den Mensch nur derene leere Schlund von derene Welt.
> ich wünsche dir daß du verschlungen wirst.
< Da Sie sollten dem Gott anbeten für.
> gott wird dich verschlingen.
< Wollen Sie eine telefonische Leitung zum den Gott?
> ja her mit gott!
< Hallo. Hier bei Gott. Hitler is am den Apparat.
> gib mir gott!!! ich will nicht hitler! ich will gott!
< Da ich gebe Sie lieber dem Milch als mehr einem allgemeinen Gegebenen. Vorsehen!

MILCHVERSCHÜTTUNG

> na endlich danke für die milch und tschüss.
< Aha. Nehmen und nich geben und gehen.
> was willst du denn haben?
< Ihrem Gemüt ich will Sie heraus reissen.
> du schwein.
< HA HA HA HA. Oh bin ich böse!

(Publikum ab)

Der Ausschnitt aus dem wesentlich längeren Dialog zeigt, dass die Kommunikation, möglicherweise unter Annahme ihrer generellen und hier speziellen Unwahrscheinlichkeit, aus Sicht des Teilnehmers funktioniert hat, weil die Antworten für ihn anschlussfähig waren. Dabei bieten sie einen hybriden Mix aus Sprachfehlern, mündlicher Umgangssprache, verballhorntem historischen Wort- und Zitatmaterial, hier sogar mit einem Ridiculum: Kann eine Maschine lachen? Die Maschine wird als fehlbar inszeniert; gerade das legt nahe, sie als (verrückten) Partner zu personalisieren. Sprachgestaltung und Milchverschüttung halten ihn für den Teilnehmer auf Distanz, und diese komische Spannung lässt sich auch auf den ablaufenden ‚Kommunikationsprozess‘ beziehen. Das gilt darüber hinaus für das Kunstereignis selbst, zumal im Kontext der überaus aufwendigen, teuren, euphorisch das neue Technikzeitalter feiernden interaktiven Medienkunst der 90er Jahre. Dieser wird hier – wiederum ironisch – mit ausgesprochenem Low-Tech begegnet, was die Sprachverarbeitung angeht (es reicht ein einfacher PC als Rechner), konterkariert durch High-Tech für Milchverschüttung und Wiederherstellen der Ausgangssituation.
Dergleichen Komikzuschreibungen werden schließlich auch im unmittelbaren Umfeld des Werkes angeboten. So präsentiert Dittmer als früherer Theatermann die Transkription der Gespräche zwischen Publikum und Maschine in der Form eines Komödientexts. Auch seine Erläuterungen zur Arbeit sind durchweg in einem ironischen Ton gehalten, unterlaufen den üblichen Techno-Jargon – zum Beispiel heideggernd: „Die Amme [...] ist ja tatsächlich, in ihrem ungeschützten Hingestelltsein in den Exhibitionsraum, das Beispiel für eine geschundene öffentliche Person mit nur begrenztem Weltverständnis, die in jeder Ansprache auch Zumutung und drohende Überwältigung vermuten muss.“ (Peter Dittmer: Schalten und Walten, S. 15)
Auch die dem Kommentartext beigefügten Illustrationen lassen sich als komisch auffassen: Weit entfernt von technischen Diagrammen, können die Skizzen in die Nähe der komischen Zeichnung gerückt werden. Der Kontrast zwischen ‚erhabenen‘ Sprachbegriffen und ‚nichtigem‘ bzw. primitivistischem Bild wiederholt noch einmal die ästhetische Grundstruktur der Installation.
Die Differenz zwischen Mensch und Maschine (Natürlichkeit und Künstlichkeit, Handeln und Funktionieren oder – mit Dittmer – „Schalten und Walten“ etc.), die Frage, ob eine Maschine denken, vielleicht sogar lachen kann, wird im Konzept von Die Amme satirisch gewendet, sie wird in ihrer Realsatire überspitzt: Vilém Flusser meinte, dass Simulieren per se eine Art des Karikierens sei – allerdings sei dies keineswegs harmlos: „Es vereinfacht das Nachgeahmte und übertreibt einige wenige seiner Aspekte. Ein Hebel ist eine Simulation des Arms, weil er alle Aspekte des Arms außer seiner Hebefunktion vernachlässigt, die Funktion aber so weit auf die Spitze treibt, daß er weit besser hebt als der Arm. Das sich durch die digitalen Codes ausdrückende und bildermachende Denken ist eine Karikatur des Denkens. Aber es wäre geradezu gemeingefährlich, diese neue Denkart deswegen etwa als dumm oder auch nur einseitig verachten zu wollen.“ (Vilém Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Göttingen: European Photography 1990, S. 143f.)
Wenn man gleichwohl behaupten möchte, dass in Dittmers Installation auch die Frage nach Dummheit (als Inkompetenz, angemessen zu interpretieren, bzw. als nichtintentionale Form der Komik, vgl. Uwe Wirth: Diskursive Dummheit. Abduktion und Komik als Grenzphänomene des Verstehens. Heidelberg: Winter 1999, S. 6-9) aufgeworfen ist, so wäre nicht gleich zu entscheiden, ob und wie sie welchem Faktor im Spiel zuzuschreiben ist. Für den Beobachter ist aber diese Reflexion, auch im Sinne Flussers, neben vielen anderen möglichen angelegt und kann sich mit einem – intentionalen – Komikerlebnis verbinden.

Quelle: Friedrich W. Block: p0es1s. Rückblick auf die digitale Poesie. Klagenfurt, Graz: Ritter, 2015, S. 127-133.

Autor der deutschen Beschreibung | Author of German description
Friedrich W. Block